Das Europäische Forum Alpbach 2023 war für mich eine erkenntnisreiche und eindrucksvolle Erfahrung. Die Frage, warum ich mich dazu entschied, an dieser Veranstaltung teilzunehmen, wurde mir häufig gestellt. Meine Antwort darauf war einfach: Ich wollte einen umfassenden Einblick in die aktuellen Entwicklungen und Herausforderungen Europas gewinnen und diese im Landesspiegel vermitteln.
Als ich nach Alpbach reiste, hatte ich den Wunsch, besser zu verstehen, in welche Richtung sich unser Kontinent – in wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Hinsicht – bewegt. Und das ist für mich auch ein Grund, warum man Zeitung lesen sollte. Es stimmt, viele Menschen lesen keine Zeitung mehr und wenn man sie fragt warum, ist die Antwort: «Weil das eh keinen Einfluss auf mein Leben hat«. Genau das glaube ich, stimmt nicht. Denn auch geopolitische Entscheidungen haben einen Einfluss auf das eigene Leben. Geht die deutsche Wirtschaft bachab, leidet auch die Liechtensteiner Wirtschaft darunter. Klar, nicht so stark wie die österreichische, weil sie breiter aufgestellt und resilienter ist, aber das Universum hört auch nicht in Schaanwald an der Grenze auf. Und wenn in Deutschland und Österreich die Zinsen so weit steigen, dass niemand mehr ein Haus bauen kann, dann verkauft Hilti weniger Bohrmaschinen. Werden keine Autos mehr in Europa produziert, wackeln bei der Presta vermutlich auch ein paar Arbeitsplätze.
Die Aussage von einigen Journalistenkollegen, «Das hat doch keinen Wert dorthin zu fahren, dass rentiert sich nicht», zeigt mir, dass viele Medien die Aufgabe, diese Zusammenhänge zu beleuchten und verständliche zu machen, nicht mehr wahrnehmen. Dann dürfen sie sich dann aber auch nicht über die schwindende Leserschaft beschweren. Und genau darum habe ich mich entschlossen, den Weg nach Tirol auf mich zu nehmen. Während meiner Zeit beim Forum Alpbach habe ich viele Diskussionen verfolgt, Vorträge gehört und Gespräche mit Menschen unterschiedlicher Hintergründe geführt. Diese Erfahrungen haben mir eine breite Perspektive auf Europa ermöglicht, und ich möchte meine Schlussfolgerungen aus dieser Erfahrung im Folgenden detailliert darlegen:
Europa gerät ins Hintertreffen – Wirtschaftlich
Eine der bemerkenswertesten Erkenntnisse war, dass Europa nicht nur im Vergleich zu China, sondern auch zu anderen aufstrebenden Regionen wie Afrika ins Hintertreffen zu geraten droht. Dies hat vielfältige Gründe, die ich sowohl auf der Bühne als auch in Gesprächen abseits des Forums erkennen konnte.
Arbeitsmoral und Klimawandel
Ein markantes Beispiel war die geringe Beteiligung am Frühsportprogramm, das von der Sportakademie des Österreichischen Bundesheers angeboten wurde. Von einigen Hundert Scholarship-Holdern sind nur wenige um 7:00 Uhr Habt Acht gestanden, die Mehrheit von ihnen stammte aus asiatischen Ländern. Dort ist es halt so, und dass habe ich schon bei mehreren Studienaufenthalten in Asien gemerkt, wenn es dort heisst, es ist dann und dann dort zu sein, dann ist man dort. Ich sage nicht, dass das immer gut und richtig ist, alles zu machen, was einem gesagt wird, aber vielleicht geht mit dieser Einstellung in einer Volkswirtschaft etwas mehr weiter als wenn junge Menschen so etwas sagen, wie eine junge Teilnehmerin im Vortrag von Rob Hopkins:
Was ich dazu sagen: «How dare you!» Woher soll das Essen kommen für diese Studentin? Woher Medizinische Versorgung, Woher die Pension, die sie vielleicht einmal gerne hätte? Das sollen andere machen? Wer denn? Der Pizzalieferant, der mit dem Auto die Pizza bringt? Wer soll die neuen innovativen Technologien entwickeln, die wir für die Substitution von Dieselautos, Dieselbussen, Ölheizungen oder Gaskraftwerken durch klimaneutrale Technologien brauchen? Die Chinesen, die Amerikaner?
Dieser Ansatz wirft die Frage auf, wie wir den Herausforderungen des Klimawandels begegnen können. Eine Arbeitszeitverkürzung kann funktionieren, hat jedoch historisch gesehen oft mit erhöhter Industrialisierung und damit verbundener Umweltauswirkung einhergegangen.
Die Idee, dass Künstliche Intelligenz (KI) und moderne Technologien alle Probleme lösen können, vernachlässigt den enormen Energieverbrauch von Grossrechnern und die Herausforderungen bei der Herstellung von Chips. Dies wirft die Frage auf, wie nachhaltig diese Technologien tatsächlich sind.
Verlagerung von Industrien aus Europa
Die Verlagerung von wichtigen Industrien aus Europa war ein zentrales Thema. Subventionen mögen vorübergehend helfen, aber langfristig müssen wir Europa wieder zu einem attraktiven Produktionsstandort machen. Dies erfordert politische Massnahmen, die Unternehmen schützen und Anreize für Investitionen in Europa schaffen.
Europa gerät ins Hintertreffen – Sicherheitspolitisch
Eindrücklich hier war für mich auch die engagierte Rede von Oby Ezekwesili, der ehemaligen nigerianische Bildungsministerin und Vizepräsidentin der Weltbank.
Es war eine der eindrucksvollsten Reden am Forum, die die Herausforderungen in Europa in wenigen Minuten auf den Punkt brachte. Nicht nur wurden Europa von China überholt, und hat es nicht gemerkt, hat Schlüsselindustrien verloren und hat es nicht gemerkt und wenn wir so weitermachen, wird Europa bald von Afrika überholt – und merkt es nicht.
Das zeigt sich nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch bei Sicherheit. Wenn der österreichische Aussenminister Alexander Schallenberg bei der Eröffnung sagte, dass er am Vorabend des russischen Angriffs in der Ukraine noch mit EU-Ministerkollegen in München beisammen gessesen ist, und einen Angriff kategorische augeschlossen hat, dann kann ich nur sagen, er hat es nicht gemerkt.
Es wurde darüber gesprochen, wie Europa seine Verteidigungsfähigkeiten stärken und die Zusammenarbeit in diesem Bereich intensivieren kann. Die Diskussionen verdeutlichten, dass die Sicherheit Europas nicht mehr nur auf militärische Aspekte beschränkt ist, sondern auch Cybersecurity, hybride Bedrohungen und die Stärkung diplomatischer Bemühungen einschliesst.
Europa gerät ins Hintertreffen – Gesellschaftlich
Die sozialen Auswirkungen der aktuellen Entwicklung in Europa werfen wichtige Fragen. Bezeichnend ist für mich hier die Aussage von Andreas Treichel, dass Europa in den letzten 60 Jahren einen Deal gemacht hat: «Wir haben soziale Sicherheit und sozialen frieden getauscht gegen Unabhängigkeit in der Verteidungsfähigkeit und Unabhängigkeit in der Energieversorgung» Dieser Kompromiss hat die Grundlage für sozialen Frieden und Wohlstand in Europa gelegt.
Die zentrale Frage, die wir uns stellen sollten, ist, wer die Befugnis hat, über die mögliche Änderung dieses Deals zu entscheiden und welche Auswirkungen dies auf uns haben wird. Wenn die Energie in Europa teurer wird als anderswo, kann dies erhebliche Auswirkungen auf die Lebenshaltungskosten der Bürger haben und den sozialen Frieden gefährden. Dies wird noch brisanter, wenn andere globale Akteure wie die BRICS-Staaten ihre Vernetzung und Einflussmöglichkeiten weiter ausbauen.
Die Idee, die beim Brown Bag Lunch des Pragmaticus propagiert wurde, europäische Standards anderen Ländern aufzuzwingen, wenn sie in den europäischen Markt exportieren möchten, könnte schwieriger umzusetzen sein, wenn Europa von anderen Regionen abhängig ist. Die Frage der Energieversorgung wird zu einem entscheidenden geopolitischen und wirtschaftlichen Thema, das nicht nur unsere Unabhängigkeit, sondern auch unseren sozialen Frieden beeinflusst.
Die Herausforderung besteht darin, wie in einer modernen Demokratie im Jahr 2023 solch wichtige Entscheidungen getroffen werden sollten. Die Beteiligung verschiedener Akteure, darunter nationale Regierungen, das EU-Parlament und die Zivilgesellschaft, wird unerlässlich sein. Eine transparente, partizipative Debatte darüber, wie wir unsere Energie beziehen und welche Opfer wir bereit sind zu bringen, ist entscheidend, um sicherzustellen, dass die Interessen und Bedenken der Bürger angemessen berücksichtigt werden und der soziale Frieden in Europa gewahrt bleibt.
Genau das wäre für mich ein Bold Europe. Ein Europa mit starken Bürgern die sich an demokratischen Prozessen beteiligen. Dazu braucht es Möglichkeiten, Foren und auch Ausbildung, Ein Bold Europe braucht aber auch mit starken Politiker, die Fähigkeit besitzen, die Interessen Europas in der Welt zu Vertreten und durchzusetzen.
Herausforderungen für die europäische Politik
Europa steht vor zahlreichen Herausforderungen, darunter steigende Zinsen, eine veränderte Arbeitskultur, wachsende Bürokratie und Umweltauflagen, die international nicht immer gleich sind. Die europäische Politik muss Lösungen finden, um diese Hindernisse zu überwinden und die Wettbewerbsfähigkeit der Region zu stärken. Und dabei sollten wir bedenken, wie es Daniel Risch im Interview gesagt hat: «Europa ist mehr als nur die EU«.
Ich hoffe, dass das Europäische Forum Alpbach 2023 dazu beigetragen hat, diese Fragen zu beleuchten und den politischen Entscheidungsträgern klarzumachen, dass dringender Handlungsbedarf besteht, um Europa wieder auf einen prosperierenden Weg zu führen. Es war eine inspirierende Erfahrung, die mir einen tieferen Einblick in die aktuellen Entwicklungen und Herausforderungen Europas ermöglicht hat.