Im Zusammenhang mit den geplanten Anpassungen der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV, 2005) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden in der öffentlichen Diskussion verschiedene Aussagen getätigt, insbesondere durch Leserbriefe. Um diesen Interpretationen sachlich zu begegnen haben wir das Ministerium für Gesellschaft und Justiz Stellung um eine Stellungnahme zu verschiedenen Punkten geben.
Die folgenden Erläuterungen basieren auf einem schriftlich geführten Gespräch mit Dr. Monika Büchel-Marxer, Mitarbeiterin im Bereich Gesundheit im Ministerium für Gesellschaft und Justiz, am 15. April 2025. Sie geben die Sichtweise des Amtes wieder und erläutern die Einordnung der IGV-Anpassungen im Kontext Liechtensteins und der Schweiz.
1. Einseitige Ausrufung des Pandemie-Notfalls
In einem Leserbrief heisst es: «dass der WHO-Generaldirektor künftig einseitig und ohne Kontrolle durch die Mitgliedstaaten einen Pandemie-Notfall ausrufen kann.»
Das Ministerium für Gesellschaft und Justiz führt dazu aus: In den Anpassungen der IGV (2005) wird eine neue Warnstufe „pandemische Notlage“ definiert. Diese ist ein Sonderfall einer GNIT (Gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite). Die Ausrufung einer pandemischen Notlage durch die WHO folgt daher den Kriterien einer GNIT, die in den IGV mit Voraussetzungen klar definiert und festgehalten sind. Die Festlegung oder Einstufung einer neuen GNIT-Stufe oder pandemischen Notlage hat keine Auswirkungen oder Folgen auf die nationale Lage im Sinne des schweizerischen Epidemiengesetzes (EpG).
Die Einstufung als GNIT durch die WHO ist ein Umstand, der bei der Entscheidung über die Ausrufung der besonderen Lage (in der Schweiz) nach Artikel 6 EpG zu berücksichtigen, aber nicht rechtlich bindend ist. Es entscheidet der Schweizer Bundesrat stets souverän und aufgrund der in der Schweiz vorherrschenden epidemiologischen Lage (s. Art. 6 Abs. 1 Bst. b EpG und 6 Bst. b Vorentwurf des Epidemiengesetzes VE-EpG). Dies bleibt weiterhin so, auch bei einer allfälligen zukünftigen WHOEinstufung als pandemische Notlage. Die Entscheidung zur Ausrufung einer besonderen Lage (oder pandemischen Lage) in der Schweiz betrifft auch Liechtenstein, da es im Rahmen des Zollvertrags an das EpG angebunden ist.
Liechtenstein ist nicht verpflichtet, die Empfehlungen der WHO umzusetzen und bleibt somit – abgesehen von dieser Bindung an die Schweiz – souverän bei der Beurteilung der Situation auf nationaler Ebene.
2. Auslösung durch potenzielles Risiko
Ein Leserbriefschreiber schreibt: «Ein potenzielles Risiko genügt, um eine solche Krise zu deklarieren«.
Das Ministerium für Gesellschaft und Justiz führt dazu aus: Mit dem neuen Absatz 4bis in Artikel 12 der IGV soll der WHO-Generaldirektor, nachdem er nach den bestehenden Kriterien und Verfahren eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite (GNIT) festgestellt hat, prüfen, ob es sich zusätzlich um eine pandemische Notlage handelt. Es sei darauf hingewiesen, dass eine GNIT bereits heute ein nicht-pandemisches Ereignis (z. B. Ebola 2014, Zika 2016, mpox 2022 und 2024) oder auch ein pandemisches Ereignis (Covid-19 2020) betreffen kann, ohne dass dies jedoch heute explizit genannt wird. Diese Anpassung mit dem neuen Absatz 4bis in Artikel 12 der IGV bringt somit mehr Klarheit in Bezug auf die Art der erklärten GNIT.
Wie in der Definition in Artikel 1 festgehalten, bedingt eine pandemische Notlage immer eine bestehende gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite einer übertragbaren Krankheit und kann nicht unabhängig davon deklariert werden. Zudem müssen vier Kriterien erfüllt sein. Diese Kriterien beziehen sich auf (1) die geografische Verbreitung, (2) die Überlastung der Gesundheitssysteme von betroffenen Staaten, (3) den Grad der sozialen und/oder wirtschaftlichen Umbrüche sowie (4) auf die Notwendigkeit eines koordinierten internationalen Handelns.
Die Deklaration einer pandemischen Notlage gilt als erhöhte Warnstufe und ist ein Kommunikationsinstrument, hat aber keine direkten Konsequenzen für die Vertragsstaaten und verpflichtet diese nicht, Massnahmen zu ergreifen. Das neue Warnsystem, das die pandemische Notlage einschliesst, dient als zusätzliche Warnung für die Vertragsstaaten und bedeutet keine Änderung in Bezug auf die Erklärung einer «besonderen Lage» in der Schweiz. Gemäss dem geltenden Schweizer Epidemiengesetz(EpG), welches über den Zollvertrag in Liechtenstein angewendet wird, hat die Feststellung einer solchen Notlage durch die WHO nicht automatisch zur Folge, dass in der Schweiz eine besondere Lage gilt. Ein Beispiel hierfür ist die Zikavirus-Epidemie 2015-2016, bei der in der Schweiz keine besondere Lage ausgerufen wurde. Für die besondere Lage in der Schweiz (sowie Liechtenstein) braucht es immer eine Beurteilung der Gefährdungssituation in der Schweiz (sowie Liechtenstein), die der Bundesrat (sowie die Regierung) vornimmt. Die in Artikel 12 vorgenommenen Anpassungen erfordern keine Änderung der nationalen Gesetzgebung. Liechtenstein ist nicht verpflichtet, die Empfehlungen der WHO umzusetzen und bleibt somit souverän bei der Beurteilung der Situation auf nationaler Ebene.
3. WHO-Direktor ordnet Zwangsmassnahmen an
Das Ministerium für Gesellschaft und Justiz erklärt dazu: In einem Leserbrief wurde behauptet, der Direktor der WHO könne «…einseitig Notstände ausrufen und entsprechende Massnahmen anordnen, zB. Bürgerüberwachung, Zwangsimpfungen, Medienzensur usw.«
Als Kontrollinstanz des WHO-Generaldirektors fungiert die WHA (World Health Assembly), die ihn ernennt. Es wurden die Rechenschaftspflichten des Generaldirektors in Art. 49 Abs. 6 der revidierten IGV sogar gestärkt: «Der Generaldirektor teilt allen Vertragsstaaten die Entscheidung und die Beendigung einer gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite, einschliesslich einer pandemischen Notlage, die vom betreffenden Vertragsstaat/von den betreffenden Vertragsstaaten ergriffenen Gesundheitsmassnahmen, zeitlich befristete Empfehlungen, einschliesslich der diesbezüglichen Nachweise, sowie die Änderung, Verlängerung und Aufhebung solcher Empfehlungen zusammen mit der Zusammensetzung und Stellungnahme des Notfallausschusses mit.»
Der Generaldirektor kann zeitlich befristete und völkerrechtlich nicht bindende Empfehlungen (!) aussprechen. In Art. 15 Abs. 2bis wird der Generaldirektor zudem aufgefordert, verfügbare Informationen über alle WHO-koordinierte Mechanismen betreffend den Zugang und die Verteilung von relevanten Gesundheitsprodukten zu nennen, wenn er zeitlich befristete Empfehlungen, d.h. ein von der WHO nach Artikel 15 erteilter nicht verbindlicher Rat zur zeitlich befristeten und risikospezifischen Anwendung als Reaktion auf eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite, um die grenzüberschreitende Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern oder einzudämmen und Beeinträchtigungen des internationalen Verkehrs auf ein Mindestmass zu begrenzen, abgibt. Die Definition von «relevanten Gesundheitsprodukten» in Artikel 1 bezieht sich auf Gesundheitsprodukte, die für die Reaktion auf eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite nach diesen Vorschriften benötigt werden. Die Definition überlässt den Vertragsstaaten, welche Gesundheitsprodukte sie in diesem Zusammenhang als relevant erachten.
Dies war bei vergangenen gesundheitlichen Notlagen von internationaler Tragweite bereits der Fall und wurde nun in den IGV verschriftlicht. Somit kann der WHO-Generaldirektor keine verpflichtenden Massnahmen anordnen. Folglich entsprechen die oben angeführten Aussagen („WHO-Direktor ordnet Zwangsmassnahmen an“) nicht der Wahrheit und auch nicht der Rechtslage.
4. Isolation/Quarantäne für Gesunde
In einem Leserbrief wurde geschrieben «Auch die Androhung von Isolation und Quarantäne für gesunde Reisende.»
Hierzu sagt das Ministerium für Gesellschaft und Justiz: Bei einem Ereignis von internationaler Tragweite beruft die WHO einen Notfallausschuss ein, der sich aus Expertinnen und Experten verschiedener Länder sowie aus Vertreterinnen und Vertretern des vom Ereignis betroffenen Vertragsstaates zusammensetzt, und legt das weitere Vorgehen fest (Art. 48, Abs.2). Zu den Mitgliedern des Notfallausschusses soll mindestens ein Sachverständiger zählen, der von einem Vertragsstaat/Vertragsstaaten benannt wurde, in dessen/deren Hoheitsgebiet das Ereignis eingetreten ist. Nach der Meldung des Ereignisses muss die WHO vom Staat des Ereignisses weiterhin regelmässig informiert werden, namentlich über Falldefinitionen, Laborergebnisse, Quelle und Art des Risikos, Zahl der Krankheits- und der Todesfälle, die Ausbreitung der Krankheit beeinflussende Faktoren und getroffene Gesundheitsmassnahmen. Die minimalen Kernkapazitäten, die auf lokaler, mittlerer und nationaler Ebene für die Implementierung eines Überwachungssystems und technischer Massnahmen an den Grenzübergangsstellen erforderlich sind, um die Bestimmungen der Gesundheitsvorschriften umsetzen zu können, sind in Anlage 1 IGV (2005) ausführlich beschrieben.
Darin werden die nötige Infrastruktur und die erforderlichen technischen Massnahmen an den Grenzübergangsstellen sowie die möglichen Gesundheitsbestimmungen für Ein- und Ausreisende oder für Beförderer, Beförderungsmittel, Güter usw. im internationalen Verkehr festgelegt. Gemäss Absatz 2 Buchstabe b sollen Vereinbarungen auch mit Laboratorien getroffen werden, um bei der Untersuchung und Versorgung von betroffenen Reisenden oder Tieren die jeweiligen Proben analysieren zu können.
Während die Anpassungen in Anlage 1 zwar zusätzliche Verpflichtungen für die Vertragsstaaten bedeuten, gilt grundsätzlich, dass es den Vertragsstaaten überlassen ist, wie sie die in Anlage 1 ausgeführten Kernkapazitäten in ihrem nationalen Kontext umsetzen. Alle in Anlage 1 verabschiedeten Anpassungen können im Rahmen der heute bereits bestehenden Gesetze, Strukturen und Abläufe umgesetzt werden und erfordern keine Anpassung der nationalen Gesetzgebung von Liechtenstein sowie der Schweiz.
5. Strafen durch Internationalen Gerichtshof
Eine ebenfalls in mehreren Leserbriefen getätigte Behauptung lautet: «Bei Nichteinhaltung KANN die Internationale Gerichtshof auch für Staaten Strafen erlassen!«
Das Ministerium für Gesellschaft und Justiz führt dazu aus: Artikel 54bis bezieht sich auf den Ausschuss der Vertragsstaaten für die Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften (2005).
Dieser neue Ausschuss befasst sich mit der Umsetzung und Einhaltung der IGV. Trotz der Vorschrift zur Schaffung, Stärkung und Unterhaltung der in Anlage 1 geforderten Kernkapazitäten gemäss Artikel 5 hat die Covid-19-Pandemie gezeigt, dass nicht alle Länder auf dem gleichen Stand bezüglich der Umsetzung dieser Kernkapazitäten sind. Der neue Ausschuss soll diese Problematik angehen und die Zusammenarbeit stärken, damit alle Länder die IGV bestmöglich umsetzen und anwenden können, um die globale Gesundheit sicherzustellen. Zudem soll das Komitee eine Möglichkeit für den Austausch von bewährten Praktiken und fachlicher Expertise ermöglichen, sowie die Einhaltung der Vorschriften erleichtern. Die Bestimmung in Artikel 54 Abs.1 stellt ausdrücklich klar, dass dieses Komitee lediglich eine vermittelnde und beratende Rolle hat und auf eine nicht anklagende, nicht strafende, konstruktive und transparente Weise arbeiten soll (Zitat): „Der Ausschuss dient allein der Erleichterung und beratenden Zwecken und arbeitet auf gütliche, nicht sanktionierende, unterstützende und transparente Weise nach den Grundsätzen aus Artikel 3.“.. Diese Anpassung hat keine sanktionierenden Auswirkungen auf Liechtenstein.
Die oben genannte Aussage ist folglich nicht korrekt.
6. Meta-Zensur aufgrund von WHO-Vorgaben
In einem weiteren Leserbrief heisst es: «Meta… gab mittlerweile zu, dass Posts zum Thema «Menschengemachter Coronavirus» aufgrund von Vorgaben der WHO entfernt wurden.»
Das Ministerium für Gesellschaft und Justiz führt dazu aus: Es ist zu betonen, dass die vorliegenden Begriffe „Meta“ und „Menschengemachter Coronavirus“ weder in den aktuellen IGV (2005) noch in den angepassten IGV definiert oder erwähnt werden. In der Anpassung der IGV sollen Vertragsstaaten die Kernkompetenz zur Risikokommunikation aufbauen, und damit u.a. Fehl- und Desinformationen adressieren (nicht „bekämpfen“).
In den Anpassungen im Bereich der Kommunikation wird der Umgang mit Fehl- und Desinformation ausdrücklich erwähnt (Anlage 1 Teil A Abs. 2 und Abs. 3). Er soll im Rahmen einer objektiven und wissenschaftlichen Information des Vertragsstaates über die Gefahren übertragbarer Krankheiten erfolgen, wie es bereits in Artikel 9 Absatz 1 des Schweizer Epidemiengesetzes (EpG) vorgesehen ist. Die Schweiz wird die Kernkapazität für die Risikokommunikation in Übereinstimmung mit dieser Bestimmung und unter Wahrung der Grundrechte und Grundfreiheiten, insbesondere der Meinungsäusserungsfreiheit, umsetzen. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass eine Risikokommunikation durch objektive und wissenschaftliche Informationen genügt, um Fehl- und Desinformation zu begegnen und damit das Ziel der Anpassung zu erreichen.1 Liechtenstein ist nach wie vor frei, die Kernkompetenzen gemäss seinem nationalen Kontext umzusetzen. Die Meinungsäusserungsfreiheit wird durch die Anpassungen der IGV (2005) nicht eingeschränkt. Vielmehr geht es bei den Anpassungen der IGV (2005) darum, dass Regierung und Behörden in Situationen wie der Covid-19-Pandemie objektiv und auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse offiziell informieren und dadurch auf kursierende falsche Informationen richtigstellend eingehen können.