Der österreichische Militärexperte Oberst Markus Reisner hat gestern in einem Journalistenbriefing ausführlich über die aktuelle militärische Lage im Ukraine-Krieg berichtet. Er schilderte die Situation mit besonderem Fokus auf die Herausforderungen, vor denen die ukrainischen Streitkräfte stehen, und den Fortschritten der russischen Armee. Reisner unterstrich dabei mehrfach die humanitäre Katastrophe, die der andauernde Krieg mit sich bringt, und betonte, dass mit jedem weiteren Tag des Konflikts mehr Menschen getötet oder verletzt werden.
Rückblick auf 937 Tage Krieg
Reisner begann mit einer Übersicht der vorherigen Phasen, insbesondere der sechsten Phase, die von der zweiten russischen Winteroffensive geprägt war. In dieser Phase konzentrierten sich die russischen Streitkräfte darauf, die kritische Infrastruktur der Ukraine zu zerstören und gleichzeitig an mehreren Fronten Druck auszuüben, um die ukrainischen Reserven zu binden.
Ein bedeutender Erfolg der Ukraine in dieser Phase war die weitgehende Verdrängung der russischen Schwarzmeerflotte aus dem westlichen Schwarzen Meer. Allerdings betonte Reisner, dass dies militärisch wenig Auswirkungen hatte, da Russland weiterhin Raketenangriffe von anderen Positionen aus durchführen konnte.
Nun sei der Konflikt in die siebte Phase gekommen, die durch eine russische Sommeroffensive gekennzeichnet ist. Diese Offensive zielt darauf ab, die ukrainischen Streitkräfte in verschiedenen Frontabschnitten unter Druck zu setzen, ihre strategischen Reserven aufzubrauchen und eine erneute ukrainische Gegenoffensive zu verhindern. Die russischen Streitkräfte konzentrieren sich dabei auf gezielte Angriffe, um die Ukraine dazu zu zwingen, ihre Kräfte zu bündeln und dadurch ihre Flexibilität zu verlieren.
Ein zentrales Thema in Reisners Analyse war das «Momentum», welches aktuell auf Seiten der russischen Streitkräfte liegt. Die russischen Truppen bestimmen das Geschehen an der Front, was bedeutet, dass die Ukraine meist nur noch auf russische Angriffe reagiert, anstatt selbst die Initiative zu ergreifen. Reisner betonte, dass dies ein gefährlicher Zustand sei, da es die Offensive der Ukraine erschwert und die Verluste auf ukrainischer Seite erhöht.
Ein weiteres wichtiges Thema war die russische Rekrutierung von Soldaten. Russland hat es geschafft, trotz des anhaltenden Krieges regelmässig neue Truppen zu mobilisieren. Durch Anreize wie hohe Zahlungen gelingt es Russland, monatlich zwischen 30‘000 und 40‘000 neue Soldaten zu rekrutieren, was zu einer erheblichen Verstärkung der russischen Streitkräfte führt. Dies, kombiniert mit der Fähigkeit Russlands, jährlich etwa 1‘200 Kampfpanzer zu produzieren, stellt die Ukraine vor grosse Probleme, da sie nicht in der Lage ist, diesem stetigen Nachschub an Soldaten und Material standzuhalten.
Reisner hob hervor, dass Russland zunehmend innovative Waffensysteme einsetzt, darunter sogenannte Gleitbomben. Diese technisch einfach modifizierten Bomben, die aus der Sowjetzeit stammen, können mithilfe von GPS-Technologie bis zu 70 Kilometer fliegen und dabei grosse Schäden anrichten. Laut Reisner wurden allein im letzten Monat über 4‘000 dieser Bomben eingesetzt, was zu massiven Verlusten auf ukrainischer Seite führte.
Durch gezielte Störmassnahmen und die Nachahmung ukrainischer Taktiken sei es Russland gelungen, die Effizienz auf dem Schlachtfeld zu steigern. Die elektronische Kriegsführung sei mittlerweile so effektiv, dass westliche Waffensysteme, auf die die Ukraine angewiesen ist, oft nicht ihre volle Wirkung entfalten können. Zudem setzten die Russen zunehmend kleine Stosstruppen ein, die gezielt in die ukrainischen Verteidigungslinien eindringen, was den Druck auf die ukrainischen Streitkräfte weiter erhöht.
Wie geht es weiter?
Reisner hob die zurückhaltende Position der westlichen Länder bei der Unterstützung der Ukraine hervor. Er erwähnte die Diskussion um die Lieferung von Langstreckenwaffen wie den Storm Shadow-Marschflugkörpern. Während Frankreich und Grossbritannien zunächst Bereitschaft signalisierten, diese zu liefern, hat Grossbritannien inzwischen erklärt, dies nicht alleine tun zu wollen. Der deutsche Bundeskanzler Scholz hat solche Lieferungen sogar gänzlich ausgeschlossen.
Diese Zurückhaltung des Westens interpretiert Reisner als ein Signal an Russland, dass die Drohungen Wirkung zeigen und der Westen nicht bereit ist, grössere Risiken einzugehen. Er erwähnte, dass Putin diese Situation sofort aufgegriffen und mit dem möglichen Einsatz von Vergeltungswaffen gedroht hat, sollte die Ukraine solche Waffen erhalten.
Reisner betonte, dass Putin argumentiert, die Ukraine selbst sei nicht in der Lage, diese fortschrittlichen Waffensysteme ohne NATO-Unterstützung einzusetzen. Dies würde nach Putins Darstellung die NATO praktisch zu einer Kriegspartei machen.
Die Kernaussage Reisners ist, dass die Ukraine zwar Unterstützung erhält, aber nicht in dem Umfang, der für eine entscheidende Wende im Konflikt nötig wäre. Die gelieferten Waffensysteme reichen aus, um den Kampf fortzusetzen, sind aber nicht ausreichend, um einen signifikanten Unterschied zu machen.
Abschliessend merkte Reisner an, dass das laufende Jahr entscheidend für die Ukraine sein wird. Er sieht im Hintergrund Anzeichen für eine mögliche Bereitschaft zu Kompromissen, die aus russischer Sicht als Sieg interpretiert werden könnten. Gleichzeitig betonte er, dass Russland derzeit wenig Interesse an Verhandlungen zeigt, da es sich auf der Siegerstrasse sieht.